Der Scaner ersetzte die guten alten Lochkarten, jetzt heisst die Innovation "elektronische Selbstverbuchung"
Selbst sind die Leser!
Ab
März d.J. wird in allen öffentlichen Bibliotheken Berlins die
elektronische Selbstverbuchung von Medien eingeführt - nicht von heute
auf morgen natürlich: Je größer und frequentierter die Bücherei, desto
umfangreicher die Umbauten. Das Zehn-Millionen-Projekt wird zur Hälfte
von der Europäischen Union finanziert, zu einem Viertel von der Stadt
und zu einem Viertel von den einzelnen Bezirken. Tempelhof-Schöneberg
ist einer der ersten Bezirke, die mit dem Umbau beginnen. Der Leiter
der Stadtbibliothek Dr. Boese rechnet mit einem Abschluss der Arbeiten
bis Oktober 2010. Anschließend halten die Nutzer ihre gewünschten
Bücher, CDs und DVDs mit dem Strichcode unter das Lesegerät oder geben
auf dieselbe Weise die Medien zurück. Nach der Verbuchung legt man
zurückgebrachte Medien entweder auf den Bücherwagen (wie etwa in der
Familienbücherei am Breslauer Platz) oder gibt sie in ein automatisches
Rücksortiersystem (geplant in der Mittelpunktsbibliothek an der
Hauptstraße), das mit einem Laufband arbeitet. Zusätzlich wird es
weiterhin die Infotheke geben, wo auch überzogene Medien bearbeitet
werden. Echte Menschen also! Der Sinn des Unternehmens liegt darin,
mehr Zeit und Personal für die individuelle Beratung zu haben. Soweit
die Theorie.
Wer jetzt erstaunt die Augen aufreißt, weil es weit
und breit keine Information zu dieser doch nicht unbeträchtlichen
Umwälzung in der Bibliothekenlandschaft gab, dem sei versichert:
Natürlich hätten wir alle längst davon wissen können! Schließlich wurde
bereits im Mai 2008 mit einem Pilotprojekt in Marzahn-Hellersdorf
begonnen, wo seitdem die Radio-Frequenz-Identifikation durchgeführt
wird (RFID), mit anderen Worten: die Selbstverbuchung am Lesegerät. Das
kann man auf der Internetseite dieser Stadtteilbücherei lesen, und
auch, man habe sich vom erfolgreichen Beispiel Münchens ermutigen
lassen. Die Wartezeiten würden verkürzt, und auch ältere Nutzer kämen
sehr schnell mit dem neuen System zu-recht. Herr Dr. Boese meint dazu,
da die Verbuchungstheken nun nicht mehr besetzt sein müssten, könne man
das freiwerdende Personal verstärkt für die Begleitung der Leserinnen
und Leser nutzen. Allerdings gibt es noch einen Spagat zu bewältigen,
den zwischen Anspruch und Wirklichkeit, verkörpert durch die Finanzen.
Zwar
wird das Projekt europäisch unterstützt, und die Förderung verlangt, es
dürfe kein Personalabbau aufgrund der Umstrukturierung stattfinden.
Andererseits aber weist der Bezirkshaushalt ein Loch von 500.000 Euro
in 2010 auf. Man hätte Bibliotheken schließen können, entschied sich
aber für einen Personalabbau von 12%. Es ist schwierig, nicht
sarkastisch anzumerken: Wie praktisch, dass gerade jetzt die
Selbstverbuchung auf die Bibliotheksbühne tritt! Der Personalabbau ist
so dramatisch, dass man fragen muss, ob auch nur das Ziel, die
Öffnungszeiten unverändert aufrechtzuerhalten, erreichbar ist.
Was die zusätzliche Beratung angeht, so meldet die Internetseite von Marzahn-Hellersdorf: „Für
die Ausleihe von Medien ist dann zukünftig nur noch 1 Thekenplatz
notwendig. An diesem werden Gebühren kassiert und bei den Problemen
geholfen (…) Die freien Kapazitäten werden wir für andere
Dienstleistungen verwenden. Dazu zählen wir die Durchführung von
Klassenführungen, ein noch größeres Angebot an Veranstaltungen und
weitergehende Projekte.“ Von mehr Beratungsumfang für die Kunden ist
dort nicht die Rede. Dr. Boese in Tempelhof-Schöneberg wird sich an
seinen Ankündigungen messen lassen müssen.
Eine zusätzliche
Sorge: Werden die Bücher noch ausreichend pfleglich behandelt, wenn
niemand bei der Rückgabe einen prüfenden Blick auf ihren Zustand wirft?
„Bei der Rücksortierung in die Regale werden die Bücher natürlich durch
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begutachtet, und man kann anhand
der Verbuchungsunterlagen gegebenenfalls die letzten Nutzer
feststellen“, sagt Herr Dr. Boese. Ob dies datenschutzrechtlich
zulässig ist, und inwieweit man beweisen kann, dass auch wirklich der
letzte Ausleiher der Bösewicht war?
In München erschien 2007,
nach einem Jahr Praxis also, ein Erfahrungsbericht mit dem
jubilierenden Titel „Warum habt ihr das nicht schon viel früher
gemacht?“ Nun, wir werden sehen.
Sanna v. Zedlitz
. Februar 2010 Stadtteilzeitung
< Inhaltsverzeichnis
|