"Mütter gehören nicht in die Klinik!"?
Mütter wurden von ihren Neugeborenen getrennt, Eltern durften ihre
kranken Kinder in der Klinik nur zu festgesetzten Zeiten besuchen - all
das gehört bei uns weitgehend der Vergangenheit an. Aber wie hat
das einmal an-gefangen, wer hat sich um die Rechte von Eltern
gekümmert, wer hat dafür gekämpft, dass die wichtigen
Bindungen zu ihren Kindern gerade in extremen Situationen nicht
unterbrochen werden?
Als mein Sohn Thomas 1955 im Alter von einem Jahr einige Zeit im
Krankenhaus zubringen musste, durften wir ihn nicht einmal täglich
besuchen ("das regt das Kind nur auf!"), und auch zwölf Jahre
später hatte sich die Situation noch nicht geändert, als
unsere Tochter mit einem Armbruch im Oskar-Helene-Heim war.
Glücklicherweise lag ihr Zimmer im Erdgeschoß, und wir
konnten uns jeden Tag durchs offene Fenster mit ihr unterhalten - wenn
die Schwestern ein Auge zudrückten. Wiederum zehn Jahre
später jedoch durfte sie dort, nun selbst Mutter, ein Zimmer
beziehen, um Tag und Nacht bei ihrem operierten Sohn sein zu
können.
Geschenkt wird nichts
Nun muß man nicht glauben, dass Krankenhausärzte aus
besserer Einsicht ihre Hierarchien durchbrochen hätten und Kindern
und Eltern die Freiräume boten, die wir heute kennen. Das musste
alles erkämpft werden, mit viel Geduld und Zähigkeit und
Durchsetzungsvermögen. Und die sie erkämpft haben, waren die
in den 30ern und 40ern Geborenen, die in diesen Jahren ihre Kinder
großzogen und 1968 von der Studentenbewegung überrollt
worden waren. Nicht nur der "Muff unter den Talaren" war damals
ausgelüftet worden, sondern auch durch Familien und Wohnzimmer
wehte der Wind, fegte Althergebrachtes und längst Überholtes
hinweg und veränderte das Leben auch unpolitischer Menschen. Manch
einer, der sich einst über die Ideen und Pläne damaliger
Jugendlicher entsetzte und Rudi Dutschke für den
„Gottseibeiuns“ hielt, profitierte später von den
Veränderungen, die der Aufbruch mit sich gebracht hatte.
68 - und was dann?
Wie sich das im einzelnen auswirkte, wie die Kinder aus der Nazizeit
das Geschehen um 1968 betrachteten und erlebten und in der Folge mit
neuen Einsichten und neu gewonnenem Selbstbewusstsein reagierten, soll
uns hier für eine Weile in der Serie "68 - und was dann?"
beschäftigen.
Den Anfang machen wir mit Rose, 1933 in Hamburg geboren, die 1964 nach
West-Berlin kam und sich in den 70ern für das Recht von Eltern
einsetzte, bei ihren kranken Kindern in der Klinik bleiben zu
dürfen: "Meine Tochter hatte eine angeborene Hüftluxation und
musste im Oskar-Helene-Heim operiert werden. Ich habe mich aufs
heftigste gewehrt, eins meiner Kinder in die Klinik zu geben, da war
bei mir Sense: was nicht lebensgefährlich ist, geht nicht in die
Klinik! Ins OHH musste ich sie zur Operation geben, wobei ich dann auch
wieder gesagt habe: nur die Zeit bis zum Fädenziehen, dann nehme
ich das Kind nach Hause. In der Zeit habe ich dann mit anderen Eltern,
die sich auch über die eingeschränkten Besuchszeiten
störten, eine Elterninitiative gebildet, in die ich dann voll
eingestiegen bin. Letztlich waren wir drei Mütter, die ganz hart
am Ball geblieben sind, wir sind durch sämtliche
Krankenhäuser West-Berlins gestiefelt und haben dafür
geworben, dass die Kinder jederzeit besucht werden können, das
fing so ‘74 an. Wir mussten gegen unglaubliche Widerstände
kämpfen, das war für mich fast eine Berufstätigkeit. Wir
haben uns am Anfang jede Woche getroffen und haben sämtliche
Kliniken, wo Kinderstationen sind, abgeklappert, d.h. ich hatte zu
Hause drei Kinder und musste für die Zeit dann immer einen
Babysitter bezahlen, die Aktion hat mich also Zeit und Geld gekostet.
Aber es war eine sehr lehrreiche und sehr fruchtbare Zeit, wir waren
bekannt in West-Berlin, haben Anrufe von verzweifelten Müttern
bekommen und konnten sie beraten. Wir hatten unseren Text gut drauf und
haben die Ärzte dann immer an die Wand geredet mit unseren
Argumenten. Wir hatten eine Broschüre herausgegeben, die wir beim
Senat drucken lassen konnten, denn wir hatten ja keine Gelder, alles
war Privatinitiative, und als die bei den Kinderärzten ausgelegt
werden sollte, ließ uns der Vorsitzende vom Kinderärztebund
abfahren: Mütter gehören nicht in die Klinik, das sind
Störfaktoren! Den haben wir aber eingeseift: zu Hause ist die
Mutter gut, da heißt es, sie ist das beste Heilmittel, und im
Krankenhaus soll sie Gift sein, so kann's doch wohl nicht sein! Das
waren mindestens zwei Jahre, wo wir sehr engagiert gearbeitet haben,
74/75". (Rose Arntzen aus: Sigrid Wiegand, "Wir Mädchen aus den
Dreißigern". Interviews mit Frauen aus Ost und West).
Sigrid Wiegand
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Juli 2008 Stadtteilzeitung
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