Friedenau vor 60 Jahren
Rheinstraße 39-39a Ecke Bundesallee im Jahr 1947, Foto:
Archiv Tempelhof-Schöneberg
Eines schönen Sommertages im Juli 1945, als Inge und Sonja gerade aus der Schule kommen,
heißt es: die Amis sind im Titania-Palast! Nichts wie hin! "Jetzt lachen wir uns
einen Ami an" ist die Parole. Das ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, dazu sind
die beiden gerade Fünfzehnjährigen viel zu schüchtern. Aber sehen wollen sie sie doch.
In der Schloßstrasse Himmel und Menschen, halb Friedenau und Steglitz ist
zusammengelaufen. Die Menge ballt sich vor den Stufen des Titania-Palastes, zwischen ihnen
schmucke amerikanische Soldaten, "Hell on Wheels" steht auf ihren Uniformhemden,
eine Panzerdivision. Und nichts von "no fraternization"; angeregt unterhalten
sie sich mit den Menschen, erstaunt über die guten Englischkenntnisse der Deutschen.
Viele jubeln ihnen zu, froh, die Russen endlich los zu sein. Viele Frauen haben allen
Grund dazu...
Im Titania-Palast bleiben die Amerikaner dann auch erst einmal: eine Bibliothek mit
amerikanischer Literatur wird eingerichtet, die den Deutschen zur Verfügung steht (im
Zuge der "Umerziehung"). Aus einem Fenster dringen herrliche Düfte; Inges Tante
wohnt im Nebenhaus, und manchmal fliegen Donuts herüber, wenn die Mädchen auf dem Balkon
sind. Bei diesem Kontakt bleibt es aber; niemand will eine "Amise" sein, wie
anfangs die Frauen, die mit amerikanischen Soldaten anbändeln, abschätzig genannt
werden. Der Schlager "Sentimental Journey" wird umgedichtet: "Stell dir
vor, wir hätten was zu Rauchen, stell dir vor, wie schön das wär'..."! Von morgens
bis abends dröhnt nun amerikanische Musik über Schloß- und Rheinstraße, die Mädchen
lernen Glenn Miller und den Swing kennen und sind begeistert, wenn die "Amis" zu
den Klängen vom Saint Louis-Blues marschieren. Das ist doch mal was anderes! Nicht jeder
allerdings schätzt die "Negermusik", und auf die Dauer wird das ständige
Gedudel zur Plage.
Nach und nach tauchen amerikanische Filme in den Kinos auf, und in der Roennebergstraße
wird ein deutsch-amerikanischer Jugendclub eröffnet, in dem der Vorstand demokratisch
gewählt wird. Wie vorausgesehen, wird Russisch in der Schule zum Wahlfach und von den
meisten umgehend abgewählt, sehr zum Kummer von Gisa Pawlowa Prenzlau, der Lehrerin, die
nicht müde wird in dem vergeblichen Versuch, ihnen die Schönheit der russischen Sprache
nahezubringen. In der Schule werden jetzt Klassensprecher und Schülervertreter gewählt,
die zum Erstaunen der Jugendlichen auch mit den Lehrern verhandeln sollen; so werden sie
mit den Regeln der Demokratie vertraut gemacht. Vom Nationalsozialismus ist erst einmal
nicht die Rede...
Aus den Straßen sind die kyrillischen Schriftzeichen verschwunden, statt Pferdewagen
jetzt Jeeps, der erste Motorroller stößt auf Hohn und Spott: das soll ein Motorrad sein?
Der sitzt ja wie ein Affe auf'm Schleifstein darauf! Äußerlich gesehen ist alles
lockerer geworden, die Schule interessanter, die Kultur spannender; aber hinter der
Fassade hat sich das Elend nicht gewandelt und wird es für lange Zeit auch nicht.
Die Stadt liegt in Trümmern und wird von den Alliierten regiert, die sich erst nach und
nach mit den Menschen und den Strukturen der Stadt vertraut machen müssen. (So wird z.B.
in der Kaiser-/ Bundesallee "versehentlich" der bekannte Dirigent Leo Borchard
von der Militärpolizei infolge einer Fehleinschätzung der Situation erschossen, als der
Künstler von einem Konzert im Titania-Palast im Auto auf dem Nachhauseweg war.) Die
Strom- und Gasversorgung funktioniert noch nicht, das Wasser holen sich die Friedenauer
und Steglitzer aus dem Feuerlöschteich hinter dem Bornmarkt oder von den Pumpen, überall
stehen lange Schlangen mit Eimern und Schüsseln. Ihre Abwässer kippen sie in die Gullis.
Als es dann endlich wieder Strom und Gas gibt, ist es streng rationiert; wer einen
"eisernen Gustav" hat, mit dem man den Lauf des Zählers aufhalten kann, ist gut
dran; er darf sich allerdings nicht erwischen lassen! Der schnoddrige Spruch aus den
letzten Kriegstagen: "Kinder, genießt den Krieg, der Frieden wird
fürchterlich!" (oder auch: "Kauft Kämme, es kommen lausige Zeiten!") hat
sich bewahrheitet. Es gibt nicht genug Lebensmittel. Einmal geht Inge mit einigen anderen
zum Grazer Platz, wo die amerikanischen Soldaten in Zelten verpflegt werden. Sie haben
Schüsseln und Teller dabei, aber erst als sie ihren Teller hinhält, merkt Inge, daß sie
bettelt. Mit einer Büchse Grapefruitsaft, den sie zu Hause nicht recht identifizieren
können, kehrt sie zurück und geht nie wieder hin. Ihre Mutter räumt mit anderen
Trümmerfrauen die Ruine an der Rheinstraße Ecke Kaiserallee auf, das gibt für eine
Weile eine bessere Lebensmittelkarte. Statt mit Glas sind die Fensterrahmen in ihrer
Wohnung mit Pappe und sog. Drahtglas vernagelt, nachdem in den letzten Kriegstagen eine
verirrte Granate im Dachgeschoß explodiert war und die gerade wieder ersetzten Scheiben
erneut zerstört hatte. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind noch nicht wieder im
Einsatz, so daß Inge eines Tages von Friedenau bis zum Alexanderplatz läuft mit einer
Tante, die dort in ihrem Büro nach dem Rechten sehen will. Auf dem Rückweg tragen sie
ihre Schuhe in der Hand. "Pommersche Beene und Pariser Schuhe" sagt ein Mann zu
ihnen. Inge wundert sich: sonst ist doch immer von ihren Storchbeinen die Rede!
Mit ihrer Freundin Sonja holt Inge Holz für den Herd aus den Trümmern, später
Buntmetall, das sich verkaufen läßt alles streng verboten, denn das Herumstöbern
in den Ruinen ist ziemlich gefährlich; oft rutschten ihnen die Steine unter den Füßen
weg, und sie landen auf dem Hosenboden im Keller. Es ist für einen guten Zweck, sagen sie
sich; auf diese Weise können sie das Abenteuer, für das sie ja eigentlich schon zu groß
sind, auch genießen... Wie die meisten Frauen, müssen ihre Mütter alles allein
durchstehen; Inges Vater ist in Kriegsgefangenschaft, Sonjas Vater bei einem Bombenangriff
kurz vor Kriegsende umgekommen. Manche Frauen sagen: Ein Glück, daß mein Mann nicht hier
ist, der würde die Hungerei nicht verkraften... Viele entwickeln neue Fähigkeiten in der
Lebensbewältigung, und Ehen gehen später in die Brüche, weil einigen Männern die
ungewohnte Selbständigkeit ihrer Frauen nicht gefällt.
In dieser Situation werden Inge und Sonja langsam erwachsen: sie hungern, haben nichts
Vernünftiges anzuziehen und wie die meisten kaum Geld für Vergnügungen. Aber der Krieg
ist zuende, die Bombennächte sind vorbei; die Jungens kommen vom Flakhelfereinsatz
zurück, keiner von denen, die sie kennen, hat den befohlenen Heldenmut mit dem Leben
bezahlen müssen. Sie lernen den Jazz kennen und den Boogie-Woogie tanzen das Leben
liegt vor ihnen!
Sigrid Wiegand
November 2005 Stadtteilzeitung
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