Alphabetisierungs-Kursleiterin
Wer würde, mit dieser Zeitung in Händen, als erstes auf
den Gedanken kommen, welches Glück es bedeutet, sie überhaupt lesen zu können ? Für
etwa 4 Millionen erwachsene Deutsche ist Lesen und Schreiben jedoch keine
Selbstverständlichkeit - sie gelten als "funktionale Analphabeten". Nicht nur
mit konkreten Einschränkungen in ihrem Alltag haben sie zu tun - nach wie vor machen
ihnen auch gesellschaftliche Vorurteile zu schaffen.
Die Schwelle, sich zu dieser Schwäche zu bekennen, ist riesengroß. Doris Held, die seit
20 Jahren an der VHS Tempelhof-Schöneberg Alphabetisierungskurse leitet, zollt ihren
Kursteilnehmer/inne/n vollen Respekt: "Die Leute, die kommen," sagt sie,
"haben bereits einen Riesenschritt getan." Dabei handelt es sich nur selten um
Menschen, die bisher gar keinen Kontakt zur Schriftsprache hatten; viele haben es in einem
sprachentfernten Alltagsleben einfach wieder verlernt, sich in Behördenbriefen
zurechtzufinden, Bücher zu lesen oder selber etwas aufzuschreiben. In einem dreistufigen
Lernprogramm können sie an der VHS in zwei bis drei Jahren so weit kommen, dass es bei
manchen später sogar zum nachgeholten Hauptschulabschluss reicht. Ein unglaublicher,
persönlicher Erfolg.
Doris Held sieht es aber auch als einen Erfolg der VHS-Lern-Gruppen an, die sich ihrem
gemeinsamen Sprach-Problem gemeinschaftlich stellen. Held selbst, durch ihre Schulzeit im
südhessischen Dialekt-Gebiet hautnah mit Sprech-Schwierigkeiten konfrontiert, fand gerade
durch diesen Aspekt gegenseitiger Hilfestellung nach einem erziehungswissenschaftlichen
Studium in Berlin zum "Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe e.V.", um
sich ganz der Bildungsarbeit mit Erwachsenen zu widmen, die Deutsch lernen wollen.
In den ersten Jahren unterrichtete Doris Held fast ausschließlich Schreib- und
Leseunkundige deutscher Muttersprache. Längst sind Menschen anderer Herkunftssprache
hinzugekommen, die Deutsch zwar gut sprechen, aber nicht lesen und schreiben können. Zu
80% werden die Kurse heute von Frauen besucht - die Altersspanne reicht von 22 bis zu 60
Jahren. Vielleicht haben die Frauen mehr Mut, sich zu ihrem Problem zu bekennen, mutmaßt
Doris Held. Auf jeden Fall gibt es heute nicht mehr so viele, die sich vom Erlernen der
Schriftsprache bessere Chancen am Arbeitsmarkt versprechen - nur noch die
Durchsetzungsfähigsten, meint Doris Held, gehen diesen Weg.
Das Angebot von regelmäßig vier Kursen pro Semester ist dennoch seit 20 Jahren immer
ausgebucht - es ist übrigens bis heute entgeltfrei. Doris Held möchte allen Mut machen,
den Schritt in eine Kursgruppe zu wagen und bittet jene, die diesen Artikel lesen können,
aber einen Menschen kennen, der es erst noch lernen möchte, sich an die VHS
Tempelhof-Schöneberg zu wenden. Ein Einstieg in Kurse ist auch im laufenden Semester
möglich !
März 2005 Stadtteilzeitung
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