DER VARZINER PLATZ UND DAS WAGNERVIERTEL
VOR 100 JAHREN EIN SPEKULATIONSOBJEKT

Als Friedenau noch eine kleine Landgemeinde und hauptsächlich zwischen der heutigen Bundesallee und dem Gelände der Wannseebahn geschlossen bebaut war, spielte das Gebiet des heutigen "Wagnerviertels" - zwischen Bundesallee, Varziner-, Handjery-, Sarrazin- und Kundrystraße - schon eine große Rolle. Dass eine Gasanstalt auf dem noch brachliegenden Areal errichtet werden sollte, war vom Gemeinderat schon 1885 mit dem Hinweis auf eine mögliche gesundheitliche Beeinträchtigung der Friedenauer Villenbewohner abgeschmettert worden. Stattdessen etablierte sich um 1890 hier an der Grenze zu Wilmersdorf für nur 15 Jahre der weitaus gesündere Sport: der "Friedenauer Sportpark" wurde gegründet mit seiner 500-Me-ter-Radrennbahn, auf der sogar Weltrekorde aufgestellt wurden. Von den Holztribünen des sehr populären Sportparks aus beobachteten Tausende begeisterter Berliner und Berlinerinnen Ballonstarts und 1904 sogar einen der ersten öffentlichen Laufwettkämpfe von Frauen, deren Nachnamen zu veröffentlichen eine Zeitung sich weigerte mit dem Hinweis, dass dies "ihren Familien unmöglich angenehm sein könne"...

Doch dann kam Georg Haberland, ein "Baulöwe" und Grundstücksspekulant der damaligen Zeit, der soviel Einfluss hatte, dass er Bauordnungen nach seinen Bedürfnissen ändern konnte. (Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?) Hatte er bisher seine besten Geschäfte in Schöneberg getätigt, so trieben ihn die Steuerforderungen des Bezirks auf der Suche nach einem neuen Spekulationsobjekt nach Friedenau: 1904 bot er der Gemeinde fast 3 Millionen Mark für das Gelände des Sportparks, ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte oder wollte. Das war das Ende des "Sportpark Friedenau" und die Geburtsstunde des "Wagnerviertels".

Schon seit 1888 war begonnen worden, neben der ursprünglich geplanten alleinigen Villenbebauung in Friedenau auch vier- und fünfgeschossige Mietshäuser zu errichten, die mehr Rendite abwarfen. Die Bauordnung wurde ein weiteres mal geändert, und die Gemeinde unterwarf sich der "Berliner Dachtraufe". Rund um den Cosimaplatz, der bis 1935 Wagnerplatz hieß, wurden auf Haberlands Grundstücken nun auch "gehobene Mietskasernen" gebaut, die Straßen nach den Frauenfiguren aus Wagneropern benannt: Sieglinde, Senta, Brünnhilde, Kundry, Isolde, Elsa, Ortrud, Eva. Dass der Cosimaplatz, diese kleine Ruheoase, nicht das Schicksal des einst vergleichbaren Schillerplatzes an der Kreuzung Wiesbadener-/Stubenrauchstraße teilen musste, verdankt er allein seiner eingeschlossenen Lage, die keinen Durchgangsverkehr zulässt.

So entstanden gediegene, komfortable Häuser, viele im sog. Landhausstil, manche auch mit Jugendstilelementen, von denen einige sogar unter Denkmalsschutz stehen. Diverse Dächer deuten durch großflächige Verglasung auf dahinterliegende Ateliers. "Berühmtheiten" wohnten dort, mehr oder weniger bekannt: der Film- und Revuekomponist Franz Doelle zum Beispiel, der Karikaturist Paul Simmel, der expressionistische Maler Otto Mueller ("Zigeuner-Mueller" - was wahrscheinlich falsch ist), die Frauenrechtlerin Helene Stöcker, und in neuerer Zeit Christoph Meckel und Henning Venske. Im Telefonbuch ließen sich vermutlich noch viele andere Namen finden, in der Friedenauer Luft gediehen schon immer Talente.

Selbst das sog. "normale" Leben hat im Wagnerviertel ein besonderes Gesicht. Sind die meisten der direkt auf den Cosimaplatz oder in die Bundesallee mündenden Straßen eher ruhige Wohnstraßen, so geht es in anderen recht lebhaft zu: kleine Läden bieten manchmal Skurriles an oder bergen Galerien, Kinderläden oder kleine Kneipen; oft stehen sie aber auch einfach leer. Die philosophierende Chefin des Frisiersalons "Tristan" in der Isoldestraße verschenkt zu Weihnachten neben Süßem Selbstgedichtetes, und direkt am Platz an der Ecke Varziner Straße werden in einem holzgetäfelten Laden süße Spezialitäten aus aller Welt angeboten. Auch ein Kino nennt das Viertel schon seit den Dreißigerjahren sein eigen: das "Cosima" direkt am Varziner Platz, ein Off-Kino, wo man die in der Innenstadt verpassten interessanten Filme nachholen kann. Den täglichen Be-darf aber deckt man wohl eher auf der anderen, Wilmersdorfer Seite des Bahnhofs. Leider ist dem Umbau der im Durchgang gelegene Kiosk zum Oper gefallen, an dem man sich jederzeit nicht nur mit Alkoholika, sondern auch mit allen erdenklichen Lebensmitteln versorgen konnte und so bei plötzlichem Besuch nie in Verlegenheit geriet. Sozusagen eingerahmt wird dieser Mikrokosmos von Wolfs Bücherei in der Kundrystraße, in der seit Jahrzehnten bekannte Literaten aus ihren Werken lesen, und dem Friedenauer Kammersaal in der Isoldestraße, wo auf alten Instrumenten musiziert wird.

Der Varziner Platz ist der Bahnhofsvorplatz des Viertels. Die nördliche Grenze des Wagnerviertels, gleichzeitig die Grenze zwischen Friedenau und Wilmersdorf, bildet hier der Bahndamm, der heutige S-Bahnhof Bundesplatz das Pendant zum "Cosima-Kino". Der dazwischen liegende Platz wurde 1983 als Fußgängerzone gestaltet (vor Radfahrer/innen muss man sich allerdings in acht nehmen). Man kann auf den Bänken sitzen und den Kandelaber bestaunen, abends sein romantisches Licht genießen oder sich tagsüber dort sonnen oder sein Bier trinken, falls man das nicht lieber in der hübschen Bahnhofskneipe tut. Der Bahnhof selbst, seit 1892 an dieser Stelle gelegen, hieß damals Wilmersdorf-Friedenau und war eine Station der Ringbahn zwischen Wilmersdorf und Moabit, die 1980 nach dem Eisenbahnerstreik stillgelegt wurde. Kurz vor der Wende war dann mit dem Wiederaufbau des Südrings begonnen worden, der am 17. Dezember 1993 wieder in Betrieb ging - der Mauerfall hatte das Projekt beschleunigt. 1994 wurde der umgebaute und renovierte Bahnhof, nun S-Bahnhof Bundesplatz, feierlich eröffnet: der S-Bahn-Ring ist wieder geschlossen!

© Sigrid Wiegand
Stadtteilzeitung Schöneberg


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